DFB nach 1:4-Debakel: Schönwetter-Fußball statt deutscher Tugenden?
Nach dem katastrophalen Spiel gegen Schweden stehen die deutschen Frauen zwar im EM-Viertelfinale, aber auch vor dem Scherbenhaufen ihres Turniers. Wie konnte es so weit kommen?
„Schweden hat unsere linke Abwehrseite ständig überladen – deswegen wussten wir nicht so recht, wie wir es machen sollten!“ Janina Minge gab sich nach dem deutschen 1:4-Debakel gegen Schweden überrascht. Wie auch Bundestrainer Christian Wück: „Die Abwehrprobleme, die wir hatten, sind aufgrund der schwedischen Spielweise entstanden.“
Überraschende Aussagen aus dem Lager der DFB-Frauen. Denn das Qualitäts-Defizit, welches Wück auf dieser Abwehrseite ganz gezielt und ganz bewusst in Kauf genommen hat, ist seit Monaten das ganz große Bauchweh-Thema in der medialen Berichterstattung gewesen. Es wäre wesentlich irritierender gewesen, hätte Schweden dieses nicht angebohrt. Der Titel ist für Deutschland damit so gut wie ausgeschlossen.
Ein paar Jahre war sie für den SC Freiburg regelmäßig im Einsatz gewesen, davor für Bayer Leverkusen. Rebecca Knaak war stets solide Mittelklasse in der deutschen Liga gewesen, ehe es sie nach Schweden zog. Vor zehn Jahren war sie einmal im DFB-Kader, zum Einsatz kam die damals 19-Jährige nicht, sie war nie wieder ein Thema. Bis Christian Wück der neue Bundestrainer wurde und sagte: „Ich brauche einen Linksfuß als linke Innenverteidigerin!“
Nun hatte Deutschland in den letzten zehn Jahren schon große Probleme, überhaupt mehr als zwei, drei taugliche Innenverteidigerinnen zusammen zu kratzen, egal welcher Fuß der starke war. Knaak war nie ein Thema gewesen – vor allem, weil sie einfach nicht besonders schnell ist und mit der hohen Linie und dem Gegenpressingspiel beim DFB ist das eigentlich nicht kompatibel. Wück bewertete den möglichen Nutzen einer zweiten Linksfüßerin in der Abwehr höher ein als das mögliche Risiko.
Dieser Wurf ist nun zum grandiosen Bumerang geworden. Es ist 15 Jahre her, dass Deutschland noch höher verloren hat als an diesem Abend in Zürich gegen Schweden.
Schweden überrascht Deutschland mit dem Erwartbaren
Dabei begann Deutschland stark, verzeichnete in den ersten vier Minuten bereits drei Torchancen und ging verdient durch Jule Brand in Führung. Aber nur wenige Minuten später ließ sich die bis nahe an die Mittellinie aufgerückte Knaak von Blackstenius weit auf die rechte Seite ziehen, sodass sich Blackstenius in ihrem Rücken absetzen konnte. Sie wurde von Asllani angespielt und weil Linder vom vorangegangenen deutschen Angriff noch am gegnerischen Strafraum verweilt war, hatte Blackstenius buchstäblich die halbe Spielfeldbreite alleine für sich Platz. Natürlich stellte sie auf 1:1.
Schweden hatte schon beim 3:0 gegen Polen konsequent über die rechte Seite angegriffen, Rytting-Kaneryd und Hanna Lundkvist hatten sich gemeinsam mit Filippa Angeldahl einen Heidenspaß aus Tomasiak und Wiankowska gemacht. Die Kombination aus Videostudium und dem Wissen, dass Deutschland auf der linken Seite defensiv weit von internationaler Spitze entfernt ist, hätte beim DFB schon Tage vor dem Duell alle Alarmglocken schrillen lassen müssen.
Heillos überforderte linke deutsche Seite
Tat es aber nicht. In Minute 20 lief Linder ihrer Gegenspielerin Kaneryd bis an den schwedischen Strafraum nach, natürlich kam gleich danach der schwedische Pass long-line in Linders Rücken, da hatte Knaak aufgepasst. In der 25. Minute wurde Kaneryd tief geschickt, die aufgerückte Linder kam ihr nicht hinterher, so musste Bühl nach hinten sprinten – die Hereingabe konnte sie nicht verhindern, diese landete in Billard-Manier im Tor, 2:1 für Schweden.
Schweden hatte die Deutschen schon so weit, dass in der 28. Minute sogar Freigang an der Seitenlinie zum Aushelfen in den defensiven Zweikampf gegen Holmberg ging, sich an der Linksverteidigern vorbei schob, nur um den Ball dann nach hinten genau Angeldahl in die Beine zu spielen – die Hereingabe geriet dann etwas zu lang. Wenige Sekunden später überluden die Schwedinnen wieder zu dritt auf der rechten Angriffsseite – während Knaak 30 Meter entfernt im Strafraum stand. Senß musste zum Helfen nach hinten sprinten.
Eine Minute später: Ein simpler 50-Meter-Pass von Björn, Blackstenius lief Knaak schon wieder davon, Minge musste nach innen kreuzen und wurde von der Stürmerin mit einem Haken abgeschüttelt. Wieder nur ein paar Sekunden später: Berger wollte den Pass auf Knaak spielen, bekam weder die Richtung noch die Schärfe richtig hin und Rytting-Kaneryd spritzte dazwischen. Wieder konnte die Schwedin das Geschenk nicht nützen.
Deutschland spielt wie das Fallobst von einst
Wie oft hat Deutschland in der Vergangenheit davon profitiert, dass sie als schnellere, cleverere und robustere Spielerinnen die Gegnerschaft in die Garage schickten? Diese Phase der kompletten gedanklichen Unterlegenheit halb durch die erste Hälfte erinnerte an Zeiten, als Deutschland selbst die Abwehrreihen von Rumänien über die Türkei bis Kasachstan auseinander riss. Tore für Schweden waren nur eine Frage der Zeit.
Und es war dann gleich die 31. Minute, als Rytting-Kaneryd sich nahe der Mittellinie im 15-Meter-Loch zwischen Linder und Knaak postieren konnte, haarscharf nicht im Abseits in deren Rücken geschickt wurde und nur noch freie Wiese vor sich hatte. Berger war vergeblich aus ihrem Tor gestürzt, um Kaneryds Stanglpass auf Blackstenius zu verhindern, deren Schuss klärte Wamser auf der Linie – mit der Hand. Natürlich gab es die rote Karte, natürlich gab es Elfmeter, natürlich verwertete Rolfö zum 3:1. Die Deutschen waren nun komplett durch, ein missglückter Berger-Abschlag landete bei Asllani, die das vierte schwedische Tor fahrlässig verschenkte.
Bis zur Pause ging Linder auf rechts, Bühl nach links hinten, Schüller ins linke Mittelfeld und Freigang blieb in einem 4-4-1 vorne, für die zweite Halbzeit brachte Wück mit zwei Wechseln wieder Ordnung rein, es wurde ein 5-3-1 und es sah alles eher nach Schadensbegrenzung aus. Die Schwedinnen schalteten zwei Gänge zurück, nach Rolfö und Björn kam bald auch Asllani zu Schonungszwecken raus. Hurtig machte noch ein 4:1 draus, die Luft war natürlich entwichen.
Einst spielerisch, dann kämpferisch, nun fast inexistent
Deutschland, deine Abwehrspielerinnen: Vor 25 Jahren hatte man mit der kürzlich verstorbenen Doris Fitschen sowie Steffi Jones ein kongeniales und auch spielstarkes Libero-Manndecker-Gespann in der Zentralverteidigung; Jones wurde später selbst zur Abwehrchefin mit Beckenbauer’schen Gestaltungs-Qualitäten. Es folgten Ariane Hingst und Sandra Minnert, später Annike Krahn und Saskia Bartusiak – es wurde immer staubiger. Phantasielos im Aufbau, aber immerhin stark in der Defensive. Und irgendwann wurde es selbst damit richtig dünn.
Wie bei den Männern produzierte der DFB in den letzten 15 Jahren auch bei den Frauen ein Überangebot Mittelfeldspielerinnen. Innenverteidigerinnen schienen im Portfolio nicht mehr vorzukommen. Sechser Lena Goeßling wurde dann nach hinten beordert, sie hörte dann auf. Marina Hegering wurde dann mit Ende 20 noch zur Nationalspielerin, sie war aber auch oft verletzt. Sophia Kleinherne gäbe es, aber von Voss über Hrubesch bis Wück wurden ihr Einsätze von allen konsequent verweigert – während ihre Frankfurter IV-Kollegin Sara Doorsoun erst Stammkraft und dann von Wück abgesägt wurde.
Sie waren beim DFB irgendwann so weit, dass sie die für Athletic Bilbao spielende Bibiane Schulze-Solano, ausgestattet mit deutschem Papa, vom spanischen Verband kaperten. Sie spielte einige Monate neben der Konstante Kathrin Hendrich, dann riss ihr Kreuzband. Janina Minge war beim SC Freiburg bis vor anderthalb Jahren auf der Sechs daheim, ehe sich in die Verteidigung beordert wurde und dann nach Wolfsburg ging. In Abwesenheit von Gwinn war Minge nun sogar DFB-Kapitänin, in ihrem 24. Länderspiel. Das sind so viele wie Eileen Campbell im ÖFB-Dress hat.
Und außen? Das öffentliche Wehklagen war groß, als Giulia Gwinn zur Rechtsverteidigerin umfunktioniert wurde. Verschenkt sei sie da hinten, die Flügelstürmerin. Längst ist sie Kapitänin, ihre Verletzung im ersten EM-Spiel schmerzt vom Leadership-Standpunkt, rein spielerisch wurde sie von Carlotta Wamser sehr gut ersetzt. Nur: Als sich Gwinn vor der WM 2023 verletzte, wurde Offensiv-Allrounderin Svenja Huth nach hinten geschickt, es war einfach sonst niemand da.
Links war in den letzten Jahren die routinierte Feli Rauch (zuvor Wolfsburg, nun bei North Carolina in der NWSL) erste Wahl. Sie wurde, wie Doorsoun, von Wück vor der EM ausgebootet – zugunsten von Franzi Kett, 20 Jahre alt und Flügelstürmerin, Ergänzungsspielerin bei Bayern München.
Vor dem Scherbenhaufen eines Turniers?
Deutschland steht im Viertelfinale, das war nach dem 2:0 gegen Polen – das verdient war, aus dem man aber lange harte Arbeit gemacht hatte – und dem chaotischen und inhaltlich teilweise haarsträubend heillosen 2:1 gegen Dänemark schon klar. Aber schon nach der Gwinn-Verletzung galt Wamser nur als Notlösung, sie ist nach zwei starken Spielen nun aber im Viertelfinale gesperrt. Womöglich hat Wück auch deshalb schon die Fünferkette mit den Flügel-Tricksern Brand und Bühl als Wing-Backs probiert.
Nun hat Frankreich bisher einen eher zwiespältigen Eindruck hinterlassen: Der Machtdemonstration gegen England folgte die etwas gelangweilte Vorstellung beim 4:1 gegen Wales, bei dem zahlreiche Stammkräfte schon geschont wurden. Gegen die Niederlande behinderte man sich selbst, weil Oriane Jean-François als Manndeckerin für Jackie Groenen aufgestellt wurde. So konnte Frankreich nicht den gewohnten Druck auf die gegnerische Spieleröffnung ausüben und ließ Löcher im Zentrum, welche die Niederlande bespielen konnten.
Nach einer Stunde führte Oranje noch 2:1, ehe (auch wegen der Verletzung von Toletti) das französische Mittelfeld geradegebogen wurde und Frankreich noch 5:2 gewann. Frankreich ist also keineswegs unverwundbar, auch defensiv nicht, es gab vier Gegentore in drei Gruppenspielen. Aber es lässt sich doch sagen, dass es bisher an den Französinnen selbst liegt, ob die Kontrahenten eine Chance haben, und eben nicht am jeweiligen Gegner.
Wenn das Frankreich vom England-Spiel aufkreuzt, oder jenes aus der zweiten Halbzeit gegen die Niederlande, wird Deutschland kaum eine Chance haben.
Leitlinien-Kick oder Schönwetter-Fußball?
Denn Deutschland geht schwer beschädigt aus dieser Gruppenphase hervor. Spielerisch war es dünn, die Abstimmung beim defensiven Umschalten schon gegen die eindimensionalen Däninnen katastrophal, und man kam im Frühjahr schon teils heftig ins Schwimmen, wenn man von Österreich angepresst wurde. Und nun kommt Frankreich daher! Wer verteidigt gegen die wuchtige Kante Sandy Baltimore? Wie soll Linder gegen die schnellen Cascarino oder Diani dagegenhalten? Und Mis-Matches im Zentrum herstellen, das kann nicht nur Schweden, sondern Frankreich genauso.
Und die Misserfolge waren im letzten Jahrzehnt, seit dem auch schon schmeichelhaften Olympiasieg von 2016, deutlich häufiger als die wenigen Erfolge. Als Christian Wück letzten Herbst das Amt übernahm, war viel von den Leitinien in der generellen DFB-Spielidee die Rede: Man will den Ball haben, das Spiel aktiv gestalten, verschiedene Systeme spielen können, unter Druck die beste Lösung finden, die Zweikämpfe suchen, gegenseitiges Coaching auf dem Platz und Antizipieren statt Reagieren (und, hui, wie ist das gegen Schweden schief gegangen!).
Ja, das ist alles ein bisschen „eh klar“ und ein bisserl Wischiwaschi, aber vor allem kommt auch hier die Offensive deutlich prominenter vor als die Defensive, die Abwehrarbeit, die klischeehaften „deutschen Tugenden“ von knorrigem Einsatz und mentaler Widerstandskraft und dem Immer-Irgendwie-Einen-Weg-Finden. Unter Wück, der bei dem von ihm geleiteten WM-Titel der deutschen U-17-Burschen vor zwei Jahren auch selbst von „deutschen Tugenden“ gesprochen hat, sind die deutschen Frauen aber das genaue Gegenteil davon geworden.
Es wurde Schönwetter-Fußball.
Das sieht super aus und reißt mit, wenn es läuft. Wie beim 6:0 in Wien, wie beim 4:0 in Bremen gegen die Niederlande, wie beim 4:3 im Wembley im letzten Herbst. Wenn man aber mit Widerstand konfrontiert ist, neigt das Team zum Auseinanderfallen. Wie eben beim 1:4 gegen Schweden. Wie beinahe beim 2:1 gegen Dänemark. Wie in der ersten Halbzeit gegen Österreich in Nürnberg.
Natürlich ist es immer noch möglich, dass Deutschland sich an Frankreich vorbei drückt und dann im Semifinale gegen Spanien gewinnt, wie schon 2019 und 2022 in der Gruppenphase und 2024 im olympischen Bronze-Spiel. Aber selbst das darf eigentlich die grundsätzliche Frage nicht obsolet werden lassen – nämlich jene, wie Deutschland mit seinem Frauenfußball weitermachen zu gedenkt.