Italia, cosa fai? Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben
Anstatt souverän Gruppenzweiter zu werden und ein machbares Viertelfinale aufzusetzen, scheint Italien bei der Frauen-EM bisher eher von Versagensängsten gelähmt. Aber warum?
Einfach die Pflicht erfüllen, Gruppenzweiter hinter Spanien werden. Dann im Viertelfinale ein bisher wirklich fürchterlich schlechtes Norwegen besiegen, das mit zwei erstaunlich unverdienten Siegen schon fix in der K.o.-Runde ist. Und schwupps, schon steht man im Halbfinale der Frauen-EM in der Schweiz.
Doch die Chance auf das beste Turnier-Resultat seit dem Final-Einzug von 1997 scheint Italien zu lähmen, nach dem Motto: Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Gegen Belgien gab es ein äußerst harziges 1:0 und gegen ein an sich harmloses Portugal fürchteten sich die Azzurre so lange vor einem späten Gegentor, bis sie es sich tatsächlich einfingen – 1:1.
Die grundsätzliche Idee
Italien ist eigentlich ein durchaus interessantes Team. Teamchef Andrea Soncin hat ein 5-3-2 etabliert, das jeweils über die ballnahe Seite asymmetrisch nach vorne schiebt – also der jeweilige Wing-Back geht weit nach vorne, während der andere hinten die ballferne Seite abdeckt. Die beiden Achter haben zusätzlich die Aufgabe, gegen die Spieleröffnung des Gegners nach vorne zu schieben. So ergibt sich eine Dreierreihe ganz vorne mit dem anderen Achter und Sechser Giugliano – die gerne ebenso aufrückt – als Absicherung im Zentrum.
Dieses Spiel funktioniert vor allem dann sehr gut, wenn die Kontrahenten flach herausspielen wollen. In der EM-Quali im Frühjahr 2024 kam man so zu einem 2:0-Heimsieg und einem 0:0 auswärts gegen die Niederlande und Italien hat vor einem halben Jahr Deutschland in einem Testspiel 2:1 geschlagen.
Was bisher schief lief
Das stößt aber an seine Grenzen, wenn der Gegner kein Problem damit hat, die Bälle lange hinten rauszudreschen. So lief man in der EM-Quali vor einem Jahr in eine etwas peinliche 1:2-Niederlage in Finnland und man konnte keines der beiden Matches gegen Norwegen gewinnen. Und dann gab es eben das 1:0 gegen Belgien zum Start in dieses EM-Turnier, das wirklich sehr mühsam war.
Belgien verteidigt in einer Fünferkette und der Einser-Schmäh ist, über die Flügel zu Kontern oder gleich die routinierte Wullaert ganz vorne direkt anzuspielen. Italien rannte hier vor allem auch deshalb in Probleme, weil die Absicherung hinter der vordersten Pressing-Welle überhaupt nicht funktioniert hat. Belgiens Wing-Backs schoben sehr hoch und Italien fürchtete sich offenkundig davor, dass diese in den Rücken der Abwehr geschickt wurden.
Also blieben Di Guglielmo und Boattin weiter hinten als geplant und dennoch weit außen an der Seitenlinie. Dadurch fehlte die Besetzung im Zentrum, womit Belgien wiederum dort Platz für Chip-Bälle hinter die Pressing-Welle vorfand – da auch die Dreier-Abwehr Italiens weit hinten verblieb. Belgien fehlte die Qualität, um wirklich Kapital daraus zu schlagen und kurz vor der Halbzeit nützte Caruso ein wenig zu viel Platz für einem platzierten Weitschuss und zum Treffer, es sollte der einzige des heißen Nachmittags in Sion bleiben.
Die mentale Komponente
Vor drei Jahren war Italien – in Erinnerung des eher überraschenden Einzugs ins WM-Viertelfinale 2019 – mit viel Vorschusslorbeeren in die EM in England gestartet, es folgte eine der übelsten Demütigungen des italienischen Frauenfußballs, schon zur Halbzeit des ersten Spiels gegen Frankreich lag man 0:5 im Rückstand. Eine Niederlage gerade gegen Belgien im dritten Gruppenspiel besiegelte das Vorrunde-Aus. Die WM war eine Katastrophe, von der sich Italien noch ein Jahr später bei der WM nicht erholt hatte.
Es ist also verständlich, dass diese Erfahrungen noch sehr präsent waren, gerade im ersten Turnier-Spiel gegen Belgien, das nach menschlichem Ermessen schon als das entscheidende um den Einzug ins Viertelfinale zu gelten hatte (zumal Portugal danach ohne jede Gegenwehr 0:5 gegen Spanien verlor). In diese Richtung waren auch die Reaktionen auf den Auftaktsieg von 2025 gegen Belgien: Die Geister von 2022 sind vertrieben, es ging jetzt mal nur um die drei Punkte. Wie? Egal. Ja, eh. Aber.
Die Pflicht lähmt den Kopf
Portugals Trainer Francisco Neto kehrte für das Match gegen Italien nach einem Jahr Fünferkette wieder auf sein davor übliches System mit Viererkette und Raute davor zurück. Italiens Wing-Backs hatten somit zwar keine direkte Gegenspielerin und konnten weit aufrücken, aber die Rest-Verteidigung schob nicht entsprechend nach – wohl auch hier mit der Angst im Hinterkopf, dass die flinken Stürmerinnen Portugals ihnen davon laufen könnten.
Defensiv hatte Italien kein Problem, weil Portugal eh keinen Druck zustande brachte und kein Tempo nach Bellgewinnen. Es wurde aber zum italienischen Problem, dass man im Angriffsdrittel zahlenmäßig nie das nötige Personal hatte, um selbst torgefährlich zu werden. Es dauerte 70 Minuten und es brauchte einen Kunstschuss von Cristiana Girelli, um endlich das 1:0 zu erzielen – gerade, als Portugal sich selbst etwas mehr zuzutrauen begann. Dass Girelli die Tränen einschossen, zeigt schon, wie groß der Stein der (eigenen) Erwartungen immer noch den gedanklichen Rucksack nach unten drückte.
Pflicht also erfüllt? Nein, die ganze mentale Fragilität trat nun erst so richtig zu Tage, und die Versagensangst. Anstatt die Daumenschrauben anzuziehen – wie es etwa Frankreichs Trainer Laurent Bonadei nach dem 1:0 gegen England mit einer Löwenkrallen-Geste forderte – betete Italien nun nur noch, dass Portugal auch die restlichen 20 Minuten harmlos bleiben möge. So lud man aber Portugal ein – erst wurde der vermeintliche Ausgleich noch wegen Abseits zurückgenommen (81.), dann traf Carole Costa nach einer Ecke die Querlatte (88.), ehe Diana Gomes die Kugel über Giuliani hinweg zum 1:1 ins Tor hob (89.).
Italien sollte im Normalfall schon noch ins Viertelfinale kommen, ob Portugal 1. gegen Belgien den nötigen Sieg einfährt und sich 2. selbst in diesem Fall der nötige Sechs-Tore-Swing ausgeht, um Italien noch rauszuboxen, ist zumindest eher unwahrscheinlich.
Von der Spitze in die Anonymität – und zurück?
Aber warum ist die Panik nun eigentlich so groß und der Druck, den sich Italien auferlegt? Nun – im Frauenfußball hatte Italien in den 1990ern zuletzt eine wirklich große Generation. Bei der EM 1989 und jener von 1991 scheiterte Italien erst im Halbfinale, 1993 und 1997 war man sogar in den Endspielen. Die burschikose Torhüterin Giorgia Brenzan, Libera Emma Iozzelli, die drahtige Mittelfeld-Kämpferin Federica D’Astolfo, Spielgestalterin und später Kapitänin Antonella Carta und Torjägerin Carolina Morace (11 Mal in Folge Liga-Schützenkönigin) bildeten das Gerüst jenes Teams, das mit Deutschland und Norwegen die europäische Spitze bildete. Dank Patrizio Panico, beim Finale 1997 erst 22 Jahre alt, schien die Zukunft nach dem Rücktritt von Morace gesichert.
Doch nach dem WM-Vorrunden-Aus von 1999 (in einer richtig starken Gruppe mit Deutschland und dem von Sissi angeführten brasilianischen Team) passierte nichts mehr. Die große Generation trat ab, der Frauenfußball zählte in Italien noch weniger als anderswo. Es reichte immer noch, um bei EM-Turnieren dabei zu sein bzw. ins Viertelfinale zu kommen . Aber man war nie mehr als einfach nur dabei. Eindruck hinterließ man keinen. Italien war Patrizia Panico (14x Liga-Schützenkönigin) und irgendwelche zehn andere.
Die großen Vereine ließen die Finger vom Frauenfußball. Die Teams von Torres Sassari aus Sardinien oder Bardolino aus Verona prägten mit dem friulanischen Dorfklub Tavagnacco die Szenerie, während anderswo schon Arsenal und Lyon und Barcelona und Wolfsburg den europäischen Ton angaben. Erst 2015 sieg Fiorentina als erster Profiklub mit einem Frauen-Team ein, 2017 folgte Juventus, 2018 die Roma und Milan, ein Jahr später war Inter erstmals in der obersten Liga dabei.
Als Italien 2019 bei der ersten WM-Teilnahme nach 20 Jahren gleich ins Viertelfinale vorstieß, war das für die Spielerinnen extrem wichtig, weil sie der Entwicklung und Professionalisierung der Liga sofort eine sichtbare Glaubwürdigkeit verliehen. Und doch dauerte es bis 2022, bis die Liga vom Verband offiziell das Profi-Pickerl verpasst bekam. Das peinliche Abschneiden bei EM 2022 und WM 2023 brachte die Liga nicht in Erklärungsnotstand, das nicht gerade, dazu war der internationale Frauen-Kick schon zu weit ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Ein Ruhmesblatt war das alles aber nicht.
Gesehen werden
Die immer mehr internationalisierte Liga, in der sich 2024/25 nur noch zwei von Männer-Vereinen „unabhängige“ Klubs befanden, hat sich einen respektierten Platz am europäischen Tisch erkämpft und darf sich schon mit Fug und Recht zu den Top-5 zählen. Aber nur ein außergewöhnlicher Erfolg des Nationalteams – also zumindest ein Semifinale – würde die Frauen-Seite des Sports irgendwie in die Schlagzeilen drängen.
Um Berichte von den beiden Spielen gegen Belgien und Portugal zu sehen, musste man auf den Seiten von Gazzetta dello Sport, Corriere dello Sport und Corriere della Sera schon ziemlich weit nach unten scrollen, hinter Berichte über Carlo Ancelottis Sohn und die neuesten Daten vom Fantasy Calcio. Trinity Rodman kommt nur als Lebensgefährtin von Tennisspieler Ben Shelton und Tochter von Dennis Rodman vor, dass sie Profi-Fußballerin ist, steht irgendwo im zweiten Absatz in einem Nebensatz versteckt. Dass sie mit dem US-Team Olympiasiegerin wurde, gar nicht.
Italiens Fußballerinnen haben außerhalb Italiens einen höheren Stellenwert als in Italien selbst. Auch darum ist es für sie so wichtig, bei dieser EM weit zu kommen und die Auslosung meint es gut mit ihnen. Und umso größer ist die Angst davor, diese Chance liegen zu lassen.